Hat die Lebenserwartung ihr Limit erreicht?

Hat die Lebenserwartung ihr Limit erreicht?

Eine kürzlich in der Fachzeitschrift Nature Aging veröffentlichte Studie mit dem Titel "Implausibility of radical life extension in humans in the twenty-first century" liefert neue Erkenntnisse zur Entwicklung der menschlichen Lebenserwartung. DIe Studie, die mittels demograpfischer Daten von 1990 bis 2019 die Entwicklung der zukünftigen Lebenserwartung untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass es zunehmend schwieriger wird, die Lebenserwartung zu steigern.

Hintergrund

Stieg die Lebenserwartung in den letzten 2.000 Jahren anfangs nur um durchschnittlich 1 Jahr alle ein bis zwei Jahrhunderte, so rasant stieg sie im 20. Jahrhundert an. Vor dieser Zeit lag die Lebenserwartung noch zwischen 20 und 50 Jahren, wobei Fortschritte aufgrund von Seuchen und Pandemien nur langsam erfolgten. Im 20. Jahrhundert, bekannt als die „Langlebigkeitsrevolution“, führten bedeutende Fortschritte in der Medizin zu signifikanten Steigerung der Lebenserwartung. Anfangs sank die Kindersterblichkeit, später stieg die Lebenserwartung auch für Erwachsene und ältere Menschen deutlich an. In dieser Zeit betrug die Steigerungsrate der durchschnittlichen Lebenserwartung drei Jahre pro Jahrzehnt, wodurch der Begriff der "radikalen Lebensverlängerung" geprägt wurde.
In den 1990er Jahren verlangsamte sich dann der Anstieg der Lebenserwartung allerdings deutlich. Trotz beeindruckender Fortschritte in Medizin und Technologie wurden und werden die Zugewinne an Lebensjahren immer geringer. Diese Beobachtung widerspricht den optimistischen Prognosen, die eine kontinuierliche Zunahme der Lebenserwartung vorhersagen. Schon 1990 wurde die Hypothese aufgestellt, dass die Menschheit in langlebigen Bevölkerungen eine obere Grenze der Lebenserwartung erreicht hat( bekannt als die begrenzte Lebensspannehypothese). Die frühen Fortschritte durch verbesserte öffentliche Gesundheit und medizinische Versorgung sind weitestgehend ausgeschöpft, und heutzutage ist das biologische Altern der Haupt-Risikofaktor für Krankheiten und Tod.
Daher glauben verschiedene Wissenschaftler, dass die Steigerung der Lebenserwartung ihr Limit erreicht hat, es sei denn, das Grundprinzip des biologischen Alterns könnte verlangsamt werden. Andere argumentieren, dass technologische und medizinische Fortschritte weiterhin zu einer deutlichen Erhöhung der Lebenserwartung führen könnten.

Die aktuelle Studie

Seit der Hypothese der begrenzten Lebensspanne (dass das menschliche Altern sein Limit erreicht hat) sind drei Jahrzehnte vergangen. Die Debatte zwischen der begrenzten Lebensspanne und der radikalen Lebensverlängerung (dass die Lebenserwartung weiterhin stark steigen wird) geht weiter. In der aktuellen Studie nutzten nun Forscher demografische Daten von 1990 bis 2019 aus den acht Ländern mit den langlebigsten Bevölkerungen sowie Hongkong und den USA, um zu prüfen, welche Hypothese durch diese Daten unterstützt wird. Diese Analyse diente auch dazu, vorherzusagen, ob eine radikale Lebensverlängerung wie im 20. Jahrhundert in diesem Jahrhundert erneut auftreten könnte.

Die Analyse beschäftigte sich mit folgenden Fragen:

  • Gab es von 1990 bis 2019 eine deutliche Erhöhung der Lebenserwartung in den langlebigsten Bevölkerungen und den USA?
  • Ist es realistisch, dass die meisten heute geborenen Kinder 100 Jahre alt werden?
  • Wie stark müssen die Sterblichkeitsraten sinken, um die durchschnittliche Lebenserwartung um ein Jahr zu verlängern?
  • Wie müsste die Sterblichkeitsverteilung aussehen, wenn in diesem Jahrhundert erneut eine deutliche Erhöhung der Lebenserwartung auftritt, und wie realistisch ist dieses Szenario?
  • Hat sich die Sterblichkeitsverteilung in den langlebigsten Bevölkerungen in den letzten 30 Jahren konzentriert oder gleichmäßig auf spätere Lebensjahre verschoben?

Die Studie kombinierte also eine umfassende Analyse historischer Daten mit einer Bewertung aktueller biologischer Erkenntnisse und zukünftiger Möglichkeiten in der Alternsforschung. Ziel war es, eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Lebensverlängerung im 21. Jahrhundert zu geben.

Ergebnisse

Die Forscher stellten fest, dass nur Südkorea und Hongkong zwischen 1990 und 2019 einen signifikanten Anstieg der Lebenserwartung verzeichneten, der als „radikale Lebensverlängerung“ bezeichnet werden konnte, mit einer jährlichen Zunahme von 0,3 Jahren. In Hongkong war dieser Anstieg jedoch auf die frühen 1990er Jahre beschränkt, was mit bedeutenden Maßnahmen zur Tabakkontrolle und wirtschaftlichem Wohlstand einherging.

Die Ergebnisse zeigen auch, dass sich die Lebensverlängerung seit 1990 deutlich verlangsamt hat. Die durchschnittliche Sterblichkeitsrate bei Menschen ab 65 Jahren ist seit 1990 zwar um 30,2 % gesunken. Wenn diese Verbesserung in den nächsten drei Jahrzehnten erneut eintritt, würde dies aber nur eine Erhöhung der Lebenserwartung um 0,8 Jahre pro Jahrzehnt bedeuten – weit entfernt von den 3 Jahren pro Jahrzehnt, die für eine radikale Lebensverlängerung erforderlich wären. Dieses Wachstum ist deutlich geringer als frühere Prognosen, die besagten, dass die Lebenserwartung im 21. Jahrhundert schneller steigen würde, sodass die meisten heute geborenen Menschen über 100 Jahre alt werden würden. Das zeigt auch die Studie, die ergab, dass die Wahrscheinlichkeit, dass 2019 geborene Frauen 100 Jahre alt werden, bei 5,1 % liegt, während sie bei Männern nur 1,8 % beträgt.

In den USA sank im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sogar die Lebenserwartung aufgrund gestiegener Sterblichkeitsraten bei mittelalten Personen, verschärft durch die COVID-19-Pandemie.

Allerdings könnten einige Entwicklungsländer in diesem Jahrhundert möglicherweise radikale Lebensverlängerungen erleben, da dort die Sterblichkeitsraten in jüngeren und mittleren Jahren noch drastisch gesenkt werden können. Im Vergleich zu diesen Ländern bleibt die Lebenserwartung in den bereits langlebigen Nationen aber begrenzt, da sich die Sterblichkeitsraten bei älteren Menschen nur noch langsam verbessern. Die Forscher argumentieren, dass wir uns einer biologisch bedingten Obergrenze der Lebenserwartung nähern. Die größten Steigerungen wurden bereits durch erfolgreiche Bekämpfung von Krankheiten erzielt. Nun stellen die schädlichen Auswirkungen des Alterns selbst das Haupthindernis für eine weitere Verlängerung dar.

Implikationen und Ausblick

Die Studie stellt gängige Annahmen in Frage, insbesondere die Vorstellung, dass die meisten heute geborenen Menschen 100 Jahre oder älter werden. Auch wenn zukünftige medizinische Fortschritte, wie Gerotherapeutika, die Alterung verlangsamen könnten, ist es unwahrscheinlich, dass sie in naher Zukunft eine radikale Lebensverlängerung ermöglichen. Die bisherigen Studien zeigen, dass getestete Substanzen nur begrenzte Lebensverlängerungen bewirken. Dennoch gibt es Hoffnung, dass zukünftige wissenschaftliche Durchbrüche neue Möglichkeiten bieten könnten, die Alterung zu verlangsamen und das menschliche Leben weiter zu verlängern.

Olshansky, der die Studie leitete, betont, dass eine weitere Verlängerung der Lebenserwartung sogar kontraproduktiv sein könnte, wenn die zusätzlichen Jahre nicht gesund verbracht werden. Er plädiert stattdessen für eine Verlagerung des Fokus auf die Verlangsamung des Alterungsprozesses und die Verlängerung der sogenannten "Gesundheitsspanne" - der Jahre, die ein Mensch bei guter Gesundheit verbringt. Olshansky beschreibt die aktuelle Situation als „gläserne Decke, aber keine unüberwindbare Mauer“. Mit gezielter Forschung zur Verlangsamung des Alterns könnten sich neue Möglichkeiten ergeben, diese Grenze zu durchbrechen. Bis dahin aber sollte der Fokus vor allem auf der Verbesserung der Lebensqualität im Alter liegen.

 

 

Originalpublikation

 

Olshansky, S.J., Willcox, B.J., Demetrius, L. et al. Implausibility of radical life extension in humans in the twenty-first century. Nat Aging (2024). https://doi.org/10.1038/s43587-024-00702-3

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